Autor Thema: Ein erster Eindruck vom Electric State  (Gelesen 804 mal)

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Offline sma

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Ein erster Eindruck vom Electric State
« am: 21.02.2024 | 17:57 »
Es ist 1997 und die Welt ist im Arsch. Die Zivilisation strebt langsam aber unaufhaltsam dem Zusammenbruch entgegen und die meisten Leute sind in eine virtuelle Realität (VR) geflüchtet (für die es komischerweise immer noch Rechenzentren und Strom gibt und offenbar auch wen, der da Inhalte schafft). Von 1975 bis 1984 gab es in den USA einen zweiten Bürgerkrieg, der die Nation gespalten und die Umwelt zerstört hat. Und Wahrheit ist ein Wort, das keine Bedeutung mehr hat.

Der Ort ist Kalifornien. Die Charaktere wollen eine letzte Reise machen. In der echten Welt. Nicht wie sonst via VR-Headset und Drohnen. Sie suchen nach Sinn. Sinn weiter zu existieren. Ein Grund, sich nicht die Kugel zu geben oder wie die anderen alle in der VR zu verlieren. Aufzugeben. Sich dem Schicksal hinzugeben. Im Rauschen unterzugehen.

Die Reise spielt man in mehreren Stops, wo man jeweils Begegnungen in einer oder mehreren Szenen spielt und so etwas über die SCs lernt. Es ist eine persönliche Reise, die die SC verändern wird. Ankommen ist optional. Der Weg ist das Ziel. Es ist ein apokalyptisches Roadmovie als Rollenspiel, an dessen Ende ein Funken Hoffnung liegen kann. Oder eben nicht. Sehr wahrscheinlich nicht.

Charaktere haben die Ressource Hoffnung, die langsam aufgezehrt wird. Wer einen Wurf "strapaziert", muss das mit Hoffnung bezahlen. Ebenso kosten traumatische Erlebnisse Hoffnung. Und die VR macht abhängig, wodurch man Glückspunkte (als weitere Ressource) sammelt. Übersteigen diese die Hoffnung, kann man die VR nicht mehr verlassen. Game over.

Charaktere baut man nach dem üblichen YZE-W6-Pool-System.

Als Archetypen stehen bereit: **Künstler** (du musst etwas erschaffen, und wenn es das letzt ist, was du schaffst), **Verbrecher** (erst war es der Kick, etwas Verbotenes zu tun, dann wurde es Gewohnheit die du nun hasst), **Spinner** (dir wurde das Licht gezeigt und dann weggenommen und nun ist da ein schwarzes Loch, das du füllen willst), **Arzt** (helfen tut gut; aber wem?), **Drone** (du bist die Drone, die Drone bist du), **Ermittler** (dieses scheiß Pflichtgefühl…), **Außenseiter** (du hast nie dazu gehört, und willst es auch nicht, redest du dir ein), **Ausreißer** (es kann – nein darf – doch nicht überall so scheiße sein), Wissenschaftler (du glaubst nicht, du weißt - und das tut so weh), **Veteran** (der Krieg ist die Hölle, sagten sie, aber was ist denn das jetzt?).

Jeder Charakter hat einen Traum. Der Veteran will beispielsweise den Krieg hinter sich lassen können. Frieden finden. Ruhe. Etwas, das die toten Kinder aus der zufällig getroffene Schule wieder gut machen kann. Etwas, das unmöglich ist.

Jeder Charakter hat auch ein Problem. Der Ausreißer sieht beispielsweise in jedem automatisch neue Eltern, auch wenn klar ist, dass sie einen doch wieder im Stich lassen und enttäuschen. Man kennt es und kann doch nichts dagegen tun.

Alle Charaktere sind kaputt.

Das typischer Kampfsystem im Spiel scheint mir daher gar nicht weiter wichtig. Es sind die USA, natürlich gibt es Waffen und Gewalt, aber das ist alles scheißegal. Vorher brechen die Charaktere eh zusammen. Wahrscheinlich schaffen sie's noch nicht einmal, eine Gruppe zu bilden. Und dann sterben die anderen und das nimmt einen dann doch mehr mit als man denkt und zack, schon wieder weniger Hoffnung. Scheiß Leben.

Aber hey, es gibt Alkohol, Drogen oder eine Depression (und 15 andere Effekte), in die man sich dann flüchten kann. Wer jetzt einen Freund hätte, oder auch nur jemanden, mit dem man reden könnte, kommt da vielleicht noch mal raus. Oder die Reise endet eben. Egal. Nur scheiße, dass man nicht ein letztes Mal die VR besucht hat.

Angeblich spürt man da nicht, wenn der Körper stirbt.

Ein schöner Tod.

Ein Vorteil ist übrigens, dass es in der realen Welt recht einsam ist. Drohnen laufen rum. Oder fliegen. Jedenfalls die, die noch nicht kaputt sind. Und die meisten sehen zum schreien komisch aus. Haha. Erinnern ein bisschen an die Helfer von GLaDOS. Und Kuchen gibt es auch keinen.

Die Reise finden in einem Auto statt. Oder einen Bus. Einer Schrottkarre, die irgendeine Macke oder andere zufällige Eigenschaft hat. Gibt es eine Tabelle für. Und man kann Unfälle damit bauen, dafür gibt es extra eine Seite mit Tabellen. Tja, und reparieren kann Fahrzeuge, weil man muss. Sonst kann man nicht reisen.

Vielleicht kann man sogar die Charaktere reparieren.

Und dann haben wir knapp 80 Seiten mit Regeln hinter uns gebracht (was angenehm kurz ist und mir gut gefällt) und können auf den restlichen Seiten des Regelbuchs (das wohl noch dicker als die aktuelle Alpha wird) eine Reise von San Francisco in die Wüste machen.

Für jeden Archetypen (in der Gruppe sollte es jeden nur einmal geben) gibt es persönliche Probleme. Denn z.B. für den Kriminellen ist dies die ultimative Flucht. Wenn er nicht schnell genug ist, kriegen ihn die Cops und mit Glück killen sie ihn. Denn das restliche Leben hinter Gittern verbringen ist noch übler.

Ich sag mal so: Das Spiel liest sich interessant und die Vorstellung, es zu spielen, finde ich auf morbide Weise reizvoll, doch gleichzeitig ist mir das viel zu deprimierend, um darauf wirklich Spielzeit verschwenden zu wollen. Mein Leben ist nicht so bunt und toll, dass ich davon ab und zu eine Auszeit in Dunkelgrauschwarz brauche, sondern im Gegenteil, ich hätte gerne einen Eskapismus in eine schönere Welt. Tales from the Loop ist da mehr mein Geschmack. Selbst "The Walking Dead" kommt mir positiver vor ;-)

Disclaimer: Ich habe mit meiner Beschreibung versucht, die wahrgenommene Stimmung des Settings sinngemäß wiederzugeben. Einfach nur nüchtern die Regeln reproduzieren ist doch langweilig. Natürlich kann man das auch anders spielen.

Offline Sgirra

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Re: Ein erster Eindruck vom Electric State
« Antwort #1 am: 21.02.2024 | 19:23 »
Ich habe den illustrierten Roman gelesen. Ein schönes, trauriges und deprimierendes, aber dabei auch optimistisches Werk, das mich sehr berührt hat. Gerade deswegen habe ich beim Rollenspiel nicht zugeschlagen. Mit den richtigen Leuten kann es ein krass-schönes Spiel werden, aber auch keines, das ich auf Dauer spielen würde. Und das Artwork habe ich schon im Bücherregel stehen. ;)
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Online schneeland

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Re: Ein erster Eindruck vom Electric State
« Antwort #2 am: 21.02.2024 | 21:50 »
Danke für den Ersteindruck!
Das bestätigt mein Gefühl, dass es ok war, am Kickstarter vorbeizugehen (ich hatte, wie Sgirra, auch vorher Kontakt mit dem Bildband).
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Offline sma

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Re: Ein erster Eindruck vom Electric State
« Antwort #3 am: 21.02.2024 | 22:19 »
Das ist hartes Zeug. Ich sage nur "... nachdem deine Pflegeeltern langsam in ihren VR-Neurocastern verrottet sind, bist du wieder auf der Straße angekommen." Da ist es schön, dass das Buch sich im Vorwort wünscht, dass man Spaß mit dem Spiel hat und diesen mit einer gefahrlosen Umgebung erleben kann, aber macht das Spaß? Mir glaube ich nicht.

Und ich schrieb gerade an anderer Stelle zur Hoffnungsmechanik, wo man, jedes Mal wenn man alle Punkte (und das sind zwischen 2 und maximal 7) verliert, ein dauerhaftes Trauma bekommen kann:

Echt übel schätze ich übrigens "Obsessive" als Trauma ein: Man muss ab jetzt jede Probe pushen. Das gibt einem dann in Nullkommanix das nächste Trauma, vielleicht "Worrisome", das Hoffnung permanent um 1 reduziert. Und kurz danach vielleicht "Phobic", was Hoffnung permanent um 2 reduziert. Und danach vielleicht "Nightmares", was jedes mal, wenn man schläft, Hoffnung um 1 reduziert. Vielleicht würfelt man danach "Reclusive" aus und verliert die Möglichkeit, Spannungen für Hoffnung abzubauen. Und danach wird man dann vielleicht gnädigerweise "Apathetic" (und kann nie mehr pushen) und bekommt schließlich "Amnesiac" und kann sich an all das nicht mehr erinnern.
« Letzte Änderung: 22.02.2024 | 08:28 von sma »

Offline Swanosaurus

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Re: Ein erster Eindruck vom Electric State
« Antwort #4 am: 23.02.2024 | 01:00 »

Echt übel schätze ich übrigens "Obsessive" als Trauma ein: Man muss ab jetzt jede Probe pushen. Das gibt einem dann in Nullkommanix das nächste Trauma, vielleicht "Worrisome", das Hoffnung permanent um 1 reduziert. Und kurz danach vielleicht "Phobic", was Hoffnung permanent um 2 reduziert. Und danach vielleicht "Nightmares", was jedes mal, wenn man schläft, Hoffnung um 1 reduziert. Vielleicht würfelt man danach "Reclusive" aus und verliert die Möglichkeit, Spannungen für Hoffnung abzubauen. Und danach wird man dann vielleicht gnädigerweise "Apathetic" (und kann nie mehr pushen) und bekommt schließlich "Amnesiac" und kann sich an all das nicht mehr erinnern.

Also JETZT will ich das spielen!  ;D
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Offline Sarastro

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Re: Ein erster Eindruck vom Electric State
« Antwort #5 am: 21.03.2024 | 13:46 »
Als Supplement weiterhin interessant.

Offline Jiba

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Re: Ein erster Eindruck vom Electric State
« Antwort #6 am: 21.03.2024 | 14:33 »
Ehrlich, ich bin von der Settingbeschreibung völlig angefixt! Sowas würde ich gerne mal spielen.

Und dann lese ich...

Zitat
knapp 80 Seiten mit Regeln

...und steige völlig aus. Curse you, Year-Zero-Einheitssystem. Naja, ich kann ja das Spiel kaufen und mir eine Konvertierung auf ein passenderes Storygame-System machen. Vielleicht findet sich ja ein schickes PbtA oder simples NuSR-System dafür oder man spielt das mit Arcana oder sonstwas. Heck, das Spiel schreit eigentlich geradezu danach, mit Belonging Outside Belonging bespielt zu werden. So richtig schön stringent, auf das Kernmotiv des Spiels hin.

Aber ich sehe echt nicht, was 80 Seiten Regeln da zu suchen haben.  :P
Engel – ein neues Kapitel enthüllt sich.

“Es ist wichtig zu beachten, dass es viele verschiedene Arten von Rollenspielern gibt, die unterschiedliche Vorlieben und Perspektiven haben. Es ist wichtig, dass alle Spieler respektvoll miteinander umgehen und dass keine Gruppe von Spielern das Recht hat, andere auszuschließen oder ihnen vorzuschreiben, wie sie spielen sollen.“ – Hofrat Settembrini

Offline sma

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Re: Ein erster Eindruck vom Electric State
« Antwort #7 am: 21.03.2024 | 15:47 »
Aber ich sehe echt nicht, was 80 Seiten Regeln da zu suchen haben.  :P
Extra für dich habe ich noch mal gezählt, und wenn ich alle Seiten mit Bildern weglasse und halbe Seiten zusammenlege, sind es netto 40 Seiten ;-) Dazu kommen 10 Seiten mit 10 Charakter-Archetypen. Das ist nun echt nicht viel Text.

Weil du das mit einem schicken PbtA vergleichen wolltest, nehmen wir uns mal die Alpha von Otherscape: Nach ungefähr 50 Seiten Settingideen darf man sich da durch 74 Seiten Spielregeln und 130 Seiten Charaktererschaffung durchgraben (zugegeben mit ein paar Bildern dazwischen), also ca. 200 Seiten. Dazu hatte ich noch nie Lust, das komplett zu lesen.

Ich habe mal nach "best NuSR" gegoogelt und davon hatte ich Pirate Borg gerade zur Hand: Das ist so Nu, dass es leider kein Inhaltsverzeichnis mit Seitenzahlen hat, aber wenn ich da so durchblättere, würde ich sagen, die Regeln umfassen etwa 80 Seiten. Danach kommen dann Gegner und Zufallstabellen und die Sandbox, davor noch ein paar Tabellen und die Karten und Cover. Da das eher A5 denn A4 ist, teile ich das noch mal durch Wurzel 2 und komme auf 56 Seiten. Auch nicht wirklich weniger.

Klar, Mausritter schafft es, die Spielregeln inkl. Charaktererschaffung auf angenehme 16 Seiten (A5) zu kondensieren, aber bereits das etwas lockerer gelayoutete Into the Odd liegt eher so bei 50 Seiten (A5), bis dann der Spielleiterteil beginnt.

Belonging Outside Belonging ist mir unbekannt, aber ich habe versucht, einen Seitenzahl zu finden und "Dream Askew / Dream Apart" hat geschmeidige 180 Seiten. Das sollen zwei Spiele sein, und sagen wir, die Hälfte ist jeweils Setting, dann müssten es auch dort so 45+ Seiten mit Regeln geben.

Offline Jiba

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Re: Ein erster Eindruck vom Electric State
« Antwort #8 am: 21.03.2024 | 16:04 »
Es ist trotzdem Year Zero. Und dieses schale Schnarch-System fasse ich mit der Kneifzange nicht an.  >;D
Aber danke, dass du dir die Mühe gemacht hast. :D
Engel – ein neues Kapitel enthüllt sich.

“Es ist wichtig zu beachten, dass es viele verschiedene Arten von Rollenspielern gibt, die unterschiedliche Vorlieben und Perspektiven haben. Es ist wichtig, dass alle Spieler respektvoll miteinander umgehen und dass keine Gruppe von Spielern das Recht hat, andere auszuschließen oder ihnen vorzuschreiben, wie sie spielen sollen.“ – Hofrat Settembrini

Offline Sarastro

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Re: Ein erster Eindruck vom Electric State
« Antwort #9 am: 21.03.2024 | 16:11 »
Es ist trotzdem Year Zero. Und dieses schale Schnarch-System fasse ich mit der Kneifzange nicht an.  >;D
Aber danke, dass du dir die Mühe gemacht hast. :D
Year Zero ist aber nicht immer Year Zero.
;D

Die Tales from the Loop Regeln sind sehr kompakt. Hätte man die für weitere Systeme etwas angepaßt, z.B. für Coriolis etc von 12 (4*3) Skills auf 20 (4*5) Skills erweitert, dann hätte man auch weiterhin einfache Regeln gehabt. So aber erfindet sich Free League jedes Mal neu, was nicht gerade überzeugend wirkt.

P.S: Womit man wieder bei der Diskussion Hausregeln versus "Trust the System" wäre.