Autor Thema: Gamismus, Narrativismus, Simulationismus - EURE Bescheibung  (Gelesen 756 mal)

Kurna und 1 Gast betrachten dieses Thema.

Offline Alexandro

  • Famous Hero
  • ******
  • Beiträge: 3.525
  • Username: Alexandro
Vielleicht mal ein Praxisbeispiel dafür, wie GAM/NAR/SIM (nach meiner Einschätzung) in einer konkreten Spielrunde aussehen könnte.

Die Beispielsysteme dienen der Verdeutlichung, und implizieren nicht, dass das System an sich nur GAM, NAR oder SIM kann – es ist ein Werkzeug, auf welchen der Spielstil projiziert wird. Also nicht zu sehr an diesem Teil des Beispiels aufhängen.

Ebenso verdeutliche ich in den Beispielen, welche Probleme es geben kann, wenn unterschiedliche Spielvorlieben am Tisch sitzen, und wie die SL von ihrer ursprünglichen Agenda abweicht, um diesem ein Stück weit entgegen zu kommen (also das, was Edwards als „Drift“ bezeichnet).

Beispielsituation: Gebirgsüberquerung (ein gefährliches Gebirge muss überquert werden, um auf die andere Seite zu gelangen)

---
Beispielsystem 1: ein OSR-Klon mit Zufallstabellen
Bei GAM würde sich die SL (idealerweise unterstützt durch verschiedene Stöckchen im Regelwerk) überlegen, wie schwierig das Gebirge ist, welche Gefahren es dort geben könnte, und diese dort platzieren. Dann schauen sich die Spielenden das an, und überlegen wie sie das Problem angehen und welche Spielressourcen sie anwenden wollen - im Idealfall finden sie einen Weg, den die SL nicht bedacht hat (weswegen da keine Hindernisse sind) oder sie haben Glück (keine Zufallsbegegnungen ausgewürfelt, Probleme mit minimalem Ressourceneinsatz gelöst) und kommen gut durch.

NAR-Spielende in diesen Runden könnten sich langweilen, weil die Hindernisse keinen Zweck zu haben scheinen („Dass das Gebirge gefährlich ist, haben wir schon vor 15 Zufallsbegegnungen begriffen…könnten wir nicht zu etwas interessanteren kommen?“) ebenso wie SIM-Spielende sich in solchen Runden vielleicht langweilen („Schon wieder 1W6 Wölfe? Hat dieser Teil der Welt nicht mehr zu bieten?“).

Die SL kann in diesem Fall von der GAM-Agenda abweichen, und diesen Spielvorlieben etwas entgegenzukommen („Die Regeln sagen zwar, dass es aller 4h einen Begegnungswurf gibt und da sind auch interessantere Sachen auf der Tabelle, aber die habe ich leider nicht erwürfelt - wie wäre es, wenn ich seltener auf Zufallsbegegnungen würfle und die Reise grob zusammenfasse [kommt NAR entgegen] bzw. wenn wir eine Begegnung haben, dass ich die nochmal neu würfele, wenn es etwas ist, was wir schon hatten [kommt SIM entgegen]?“), auch wenn bestimmte Spielende, welche das Spiel gerade wegen der GAM-Elemente gewählt haben, damit wahrscheinlich nicht ganz glücklich sein werden.

---
Beispielsystem 2: ein forgiges Erzählsystem, bei dem die Spielenden nacheinander 10 Szenen beschreiben, welche anhand bestimmter Prompts beschrieben werden – wenn sie eine Schwäche ihres Charakters offenbaren, wo dieser die Hilfe der anderen Charaktere benötigt, erhalten sie einen Storytoken, mit dem sie die Geschichte in anderen Szenen beeinflussen können.

Bei NAR, könnten, welche Fortschritte auf der Reise an bestimmte Storyabschnitte gekoppelt sein, beispielsweise indem man bestimmte Prompts nutzt, wie „Setzt sich mit der feindseligen Tierwelt auseinander“ oder „Ein Leben am Abgrund“, und daraus gemeinsam spannende Momente in der Erzählung improvisiert.

GAM-Spielende könnten sich in solchen Runden langweilen, weil es zwar Probleme gibt, diese aber einfach „wegerzählt“ werden können (die Lösung ist nicht so wichtig, wie die Tatsache, dass es diese gefährlichen Situationen überhaupt gibt). SIM-Spielende könnten sich daran stören, dass es ohne auftretende Probleme auch keinen Fortschritt gibt.

Die SL kann in diesem Fall von der NAR-Agenda abzuweichen, um diesen Spielvorlieben etwas entgegenzukommen (z.B. die Möglichkeit offenhalten, dass Lösungsansätze auch scheitern können, egal wie kreativ diese erzählt wurden [kommt GAM entgegen] oder dadurch, dass jede Einbindung der Welt in die Erzählung (egal ob jetzt die „Story“ voranbringend oder reines Charakterspiel) mit einer Fortschreibung der Handlung goutiert wird [kommt SIM entgegen]), auch wenn bestimmte Spielende, welche das Spiel gerade wegen der NAR-Elemente gewählt haben, damit wahrscheinlich nicht ganz glücklich sein werden.

--
Beispielsystem 3: ein weltsimulierendes Barbiespiel-System, mit zahlreichen Fertigkeiten (darunter absoluten Orchideen, wie Ackerbau, Pantomime oder Zuckerbäckerei), die jedoch jeweils eine deutliche Funktion in der Welt haben, und den Spielenden das Gefühl geben, einen „runden“ Charakter zu spielen.

Bei SIM wollen die Teilnehmenden der Runde die Besonderheiten ihrer Charaktere in der Welt spielen. Die SL könnte Interaktionsmöglichkeiten (idealerweise Siedlungen von kulturschaffenden Völkern) auf dem Gebirgspass platzieren, und die Spielenden einladen, sich mit diesen auseinander zu setzen (indem sie auf der gefährlichen Reise dankbar die Gastfreundschaft von jedwede Person in Anspruch nehmen, die bereit sind die Strapazen der Reise etwas zu lindern).

NAR-Spielende könnten sich in solchen Runden langweilen, weil es zwar schauspielerisch dichte Szenen gibt, diese aber nicht notwendigerweise die Handlung voran bringen. GAM-Spielende könnten ein Problem damit haben, dass die Fertigkeiten der Charaktere für „rein symbolische“ Handlungen verwendet werden, nicht um sich und der Gruppe einen Vorteil zu verschaffen (bspw. bäckt der Zuckerbäcker für den Bürgermeister des Dorfes ein festliches Mahl – aber nicht, um dafür eine Gegenleistung (Informationen, Geld, Aufträge, etc.) zu bekommen, sondern einfach nur um zu zeigen, was für ein krasser Zuckerbäcker dieser ist).

Die SL kann in diesem Fall von der NAR-Agenda abweichen, um diesen Spielvorlieben etwas entgegen zu kommen (z.B. Plots schreiben, welche durch die Besonderheiten der Barbiespielenden befeuert werden (eine Fee, welche in Verkleidung das Dorf besucht, ist eine ziemliche Naschkatze und lässt bei köstlicher Torte ihre Tarnung fallen – die Spielenden können sich jetzt entscheiden, wie sie damit umgehen) [kommt NAR entgegen] oder den Spielenden für solche Handlungen Vorteile zukommen lassen, auch wenn dies nicht explizit ihr Ziel war [kommt GAM entgegen]) , auch wenn bestimmte Spielende, welche das Spiel gerade wegen der SIM-Elemente gewählt haben, damit wahrscheinlich nicht ganz glücklich sein werden.
Ohne Dramaturgie gibt es kein Drama.

Wer beim Rollenspiel eine Excel-Tabelle verwendet, der hat die Kontrolle über sein Leben verloren.

Online nobody@home

  • Steht auf der Nerd-Liste
  • Titan
  • *********
  • Beiträge: 13.611
  • Username: nobody@home
Ein Punkt, der mir noch eingefallen ist, mit dem sich der Unterschied mMn auch recht gut illustrieren läßt, sind Aufstiegsregeln.

-- Gamistisch dienen Aufstiege in erster Linie als Spielerbelohnung: "Ihr habt X, Y, und Z mit Bravour geleistet, gratuliere, dafür gibt's ein neues Paket Upgrades!". Das sieht man mMn insbesondere gut in klassischen Stufensystemen, die recht bewußt so angelegt ist, daß sich erst mal eine Weile nichts ändert (so daß man sich an das gewöhnen kann, was der eigene Charakter schon so drauf hat) und dann nach einer gewissen Zeit oder Anzahl von Erfahrungspunkten gleich ein ganzer Satz neue Boni auf einmal dazukommt.

-- Simulativ versuchen die Regeln generell mehr oder weniger gekonnt, Charakterweiterentwicklung "realistischer" als im G-Beispiel zu modellieren -- also so, wie sie eben in der Spielwelt "wirklich" wäre. (Prinzipiell kann man natürlich auch versuchen, eine in dieser Hinsicht bewußt unrealistische Spielwelt "korrekt" zu modellieren, dafür finden sich meines Wissens nur einfach weniger konkrete Beispiele.) Typisch für so etwas sind beispielsweise sehr kleinteilige und feingekörnte Fertigkeitsverbesserungen etwa im einstelligen Prozentbereich wie bei BRP & Co., Trainingskosten und -zeiten, und Regeln für Dinge wie den unvermeidlichen Wiederabbau (nicht bloß systematisches Umverteilung von "Körper" auf "Geist") durch hohes Alter.

-- Und narrativ bzw. dramaturgisch sind Charakterweiterentwicklungsregeln dann in erster Linie dazu da, den längerfristigen Kampagnenplot möglichst gut zu unterstützen -- beispielsweise, indem sie für Super Kung Fu Ninja Warriors regelmäßig das Lernen neuer Techniken und die Stärkung des charaktereigenen Kis einplanen, während die Kommandocrew des Raumschiffs Edelweiß eigentlich schon praktisch so kompetent ist, wie sie jemals sein wird, und es dann im Lauf der Kampagne vielleicht nur noch um die Entwicklung der SC als Personen und die der Beziehungen zwischen ihnen und wichtigen NSC geht.

Auch hier gilt wieder, daß kein Satz solcher Regeln zwingend zu hundert Prozent lupenrein nur eins dieser Ziele verfolgen muß, zumal ihre persönliche Interpretation auf Seiten der Empfänger eh wieder durch deren individuelle graue Schädelfüllung erfolgt. Nur, recht unterschiedlich sind die jeweiligen "Kernmotivationen" auf der anderen Seite eben doch.