Ich lese gerade "Ann Dvorak - Hollywood's Forgotten Devil" (2013, Christina Rice). Vielleicht ist dieses Buch meine Rettung! Oder zumindest meine Erlösung.
Es fing alles als ein kleiner Spaß an. Ich konnte nicht wissen, dass ich damit die Mächte der Finsternis heraufbeschwor. Ich leitete letztes Jahr in meiner Schulfreundestammrunde eine 1935er Kampagne um die mögliche Rückkehr des Gelben Königs. Ich wollte für einen der Investigatoren, einen karriereorientierten Londoner Dozenten, ein optionales Spielereignis generieren, weil der meinte, sein Umfeld jederzeit unter Kontrolle zu haben. Heute wünschte ich, der Spieler dahinter hätte dieses Angebot nie angenommen! Andererseits hätte mein Leben dann tatsächlich gar keinen Sinn mehr, obschon ich heute nur noch ein Schatten meiner Selbst bin, ein blasser Schatten an der Wand, ein Wesen im Zwielicht.
Ich wusste, dass der Dozent an jenem kalten Herbstmorgen einen Umweg machen würde, um ein kleines Theater zu lokalisieren, das für ein anstehendes, sehr verdächtiges Theaterstück einer Amateurtruppe warb. Ich hatte mir Details zum Ensemble überlegt und eine selbstbewusste, junge Frau auf dem Aushang ergänzt, die nicht zum Ensemble, sondern zum Theater gehörte. Sie machte die Beleuchtung. Ihr Name sei Ann Angst. Sie sollte ominös wirken und dennoch eine mögliche Anlaufstelle sein, da sie eben nicht zu den fehlgeleiteten Amateuren gehörte. Und dann hatte ich eben diese Idee, um den Dozenten, sein Name war George, ins Wanken zu bringen: Was wäre, wenn ich dem Spieler den Eindruck vermittelte, dass Ann Gefallen an George finden könnte? ... Ich würde ein Bild benötigen, ein Portrait, ein Foto, denn ohne Konkretes kann derlei nicht funktionieren. Wenn ich heute darüber nachdenke, dann glaube ich, dass die Fallschlinge längst gelegt war, aber nicht durch mich, sondern für mich. Und für meine Runde. Denn es dauerte keine zwei Minuten, bis ich sie im Internet fand! Ann Angst; selbstbewusst, aber auch geheimnisvoll. Sie blickt mich scheinbar nicht an, doch ich weiß, dass sie es tut, dass sie mich längst durchdrungen hat! Diese digitale Kopie einer fast hundertjährigen Aufnahme führe ich seither stets bei mir. Und so groß das Verlangen ist, euch teilhaben zu lassen: Ich werde euch dieses Bild nicht als Anhang zur Verfügung stellen! Denn indem ich diese Zeilen schreibe, möchte ich euch warnen, nicht zu Opfern der Finsternis machen!
Und schon agierte ich wie im Rausch, um die Szene am Theater zu planen. Kann mich daran nur in Schlaglichtern erinnern und an die Tage bis zum nächsten Spielabend gar nicht mehr. George steht also vor dem Aushang an der verschlossenen Front des Theaters. Eine Frauenstimme spricht ihn sanft von hinten an: "Verzeihen Sie, Sie blockieren die Tür." Er dreht sich um, ich übergebe das Foto, ihre Blicke treffen sich, ich spiele passende 30 Sekunden aus Witchcraft von Frank Sinatra an - alle am Tisch lachen - noch! - und alle wissen sofort Bescheid. Sie sagt noch: "Sie leben ziemlich gefährlich." Der Spieler weiß längst nicht mehr, ob er noch George ist. Er stammelt. Sie ergänzt: "Sie tragen keinen Schal bei dieser Kälte. Sie werden sich noch den Tod holen!" Alle am Tisch lachen, aber alle wissen bereits: das wird nicht gutgehen! Die beiden nennen ihre Namen. George hatte den Aushang eben schon gelesen, der Name "Ann Angst" war als erstes aufgefallen. Am Tisch sind also alle im Bilde. Wir hören den Spieler sagen: "Sollen wir, könnte ich Sie vielleicht, heute Abend ..." - "Ja, warum auch nicht?", unterbricht sie ihn. "Ihre Gegenwart könnte mir gewiss schmecken."
Ich hatte mir noch einige Details zur Person ausgedacht, ein paar mögliche Szenen - man weiß ja nie, wohin die Dinge führen - einige Wortfetzen, und einige dunkle Details, die mir adhoc einfielen (und die ich hier und nirgends wiederholen möchte). Und so vergingen die Stunden, in denen alle am Tisch in einen Bann gerieten, obwohl eigtl nur George und Ann gemeinsam waren. Es ging so leicht. So leicht. Man sollte das Perfekte stets fürchten! Die Motte, die das Licht sucht, vergeht nicht immer im Licht, sondern am Räuber, der direkt hinter dem Licht im Schatten lauert.
Wir waren so nah am Licht, dachten wir. Wir sind seither nicht entkommen. Wir haben unsere Frauen verlassen, unsere Familien. Unsere Arbeit. Unser Heim. Wir leben im Verborgenen. Wir essen kaum. "George" ist im Winter an Auszehrung gestorben. Wir Übrigen benötigen nicht viel. Zur Abenddämmerung treffen wir uns. Ann wartet schon. Und die Runde sagt: "Spiel's noch einmal, Rille!"