Sofia Gubaildulinas Vertonung des Sonnengesangs von Franz von Assisi
Der Text versucht sich an einem Lobpreis der gesamten Schöpfung... mit der Betonung auf die GESAMTE Schöpfung.
Ich bin fasziniert von Versuchen in der Kunst, die irgendwie davon handeln "Alles" darzustellen. Es sind naive Versuche eine Totale darzustellen, die nur scheitern können, denn "Alles" ist ein Thema, an dem sich noch jeder überhoben hat. (Auch Autoren von simulationistischen Rollenspielregelwerken.)
Wie die Leute aber an ihrer Aufgabe scheitern, das ist doch manchmal sehr spannend!
Sofia Gubaidulina wusste, dass das Vorhaben nicht zu verwirklichen ist, und hat trotzdem ein großes Stück für Solocello, Schlagzeug, Celesta und Chor geschrieben. Der Chor singt den Text, der Solocellist ist in gewisser Weise dafür da, das Scheitern zu demonstrieren.
Was im Stück zu erleben ist, sind Grenzüberschreitungen, quasi Stationen auf der Suche nach der Totalen.
Um die szenischen Momente des Werkes miterleben zu können, ist es schön, wenn man es als Video sehen und hören kann. Zum Beispiel in dieser großartigen Einspielung mit einem tollen Cellisten!
Sofia Gubaidulina: Sonnengesang (Canticle of the Sun)Wer will kann das Werk anhand meines Verlaufsprotokolls mitverfolgen.
0:10 Es beginnt relativ traditionell, mit einigen hübschen gebrochenen Akkorden des Solisten, die allerdings in Glissandi eingebetet sind.
0:25 Schon bald aber kommt der Moment, an dem deutlich wird, dass dieses Dur nicht mehr ausreicht, um die GESAMTE Schöpfung darzustellen. Es wird zunehmend erweitert, mit Dissonanzen angereichert und auch die langgezogenen Glissandoklänge werden von kurzen, abgehackten Tönen durchsetzt. Dennoch bleiben für eine ganze Weile Dur und Moll-Akkorde die Basis für das Stück.
7:53 Dann aber kommt der Moment, an dem deutlich wird, dass auch die wechselnden, dissonanteren Akkorde nicht mehr ausreichen, um die GESAMTE Schöpfung darzustellen. Ungewöhnlichere Spieltechniken tauchen auf, von denen die folgenreichste Flagelettklänge ist. Ab 13:58 werden in diesem Zusammenhang die eng mit den Flageoletts einhergehenden Naturtonreihen verbunden, deren Töne in reiner Stimmung sich zumindest teilweise zwischen denen der in unserer westlichen Musik inzwischen üblichen "wohltemperierten Stimmung" befinden. Diese "Flageoletttöne zwischen den Tönen", des Cellisten werden nun oft durch die in ihrer Nähe befindlichen Tönen der herkömmlichen Stimmung konfrontiert: "So oder so?" fragt die Musik und bezieht damit die erweiterten Möglichkeiten der Tonhöhen in das Werk ein.
Ab 17:55 wird in mehreren Anläufen auf ein Höhepunkt zugesteuert. Es kommt zu einer Verdichtung, alle bisher erklungenen Elemente werden kombiniert: zentrale Akkorde (u. a. als Liegeakkorde), dissonante Einfärbungen des Akkordes (u. a. durch Triller und schnelle Wechselbewegungen), gebrochene Dreiklänge, Glissandi. Man könnte meinen, hier erklinge die GESAMTE Schöpfung, so wie sie sich in der Musiksprache der Komponistin ausdrückt. Allerdings fehlt die Naturtonreihe... aus gutem Grund.
19:39 Das Stück ist aber noch nicht zu Ende. Plötzlich verlässt der Cellist seine "Rolle" als "Solostar" und beginnt damit, Schlaginstrumente zu bedienen.
20:55 Jetzt erklingt auch die Naturtonreihe wieder, die sich viel näher an der Natur befindet, als die bei uns in der Regel stillschweigend vorausgesetzte "wohltemperierte Stimmung".
25:55 Aber nicht genug damit: Auch der Tonumfang unserer Instrumente wird ja oft stillschweigend vorausgesetzt und muss daher für eine Darstellung der GESAMTEN Schöpfung in Frage gestellt werden. Der Solist spielt daher immer ausgedehntere Naturtonreihen von der tiefsten Saite seines Instrumentes an und stimmt diese Saite nach und nach immer weiter herunter. So wird der übliche Tonumfang des Cellos erweitert.
28:05 Durch das Herabstimmen der Saite bei gleichzeitigem Einsatz bestimmter Spieltechniken (sul ponticello, d. h. der Bogen wird nah am Steg geführt, wodurch der Klang obertonreicher und schärfer wird) wird auch der Klang des Cellos immer geräuschhafter. Noch etwas später (28:39) wird mit Holzschlägeln auf die Saiten geschlagen, noch später (29:48) wird mit dem Holzschägel auch auf den Instrumentenkorpus geschlagen, schließlich bedient der Cellist wieder Schlaginstrumente (31:00) - insgesamt ist festzustellen, wie der Geräuschanteil der erzeugten Klänge immer größer wird. Auch die stillschweigende Voraussetzung, dass ein Cello im wesentlichen Töne (und keine Geräusche) zu erzeugen hat, ist dadurch überwunden worden und die Musik ist der Darstellung der GESAMTEN Schöpfung noch einen Schritt näher gekommen.
32:14 Dann steht der Cellist auf, streicht mit seinem Bogen über ein Flexaton, wodurch er einige metallisch klingende, frageähnliche Aufwärtsglissandi erzeugt, und schreitet dabei den im Halbkreis stehenden Chor ab. Er wendet sich der Chormitgliedern (32:40) zu und spielt weitere Flexatonklänge. Die Sänger antworten ihm. Die Passage ist in der Partitur mit "Responsorium" überschrieben und es wird deutlich, dass hier ein gottesdienstlicher Zusammenhang erzeugt wird. Die Darstellung der GESAMTEN Schöpfung ist nun nicht mehr Werk eines Einzelnen, sondern wird an die Gemeinschaft der Gläubigen übergeben... das Werk ist seinem Ziel einen weiteren Schritt näher gekommen.
Einen letzten Flexatonklang (33:50) spielt der Cellist in Richtung Publikum. In der Partitur heißt es, dass der Cellist dabei das Publikum nicht ansehen soll. Wenn seine Glissandi Fragen sind, er das Publikum aber nicht ansehen soll, an wen sind seine Fragen dann gerichtet? Der Adressat von Franz von Assisis Sonnengesang ist Gott, es ist daher anzunehmen, dass auch der Cellist sich an dieser Stelle mit seiner Frage an Gott richtet. Darin lässt sich eine weitere Grenzüberschreitung erkennen: Wenn die GESAMTE Schöpfung gepriesen werden soll, muss auch die Transzendenz betrachtet werden.
Nach dem auskomponierten Zurückstimmen des Cellos (34:19) stößt das Instrument ganz allmählich in die höchsten Höhen seines Tonumfanges vor. Die übrigen Musiker begleiten es, ab 40:32 erzeugen sie als Schlussakkord einen flirrenden Klang, aber irgendwann löst er sich auf und verstummt, worauf das Cello noch ein paar Sekunden hat, in denen es den höchstmöglichen Klang schlechthin ansteuern soll (42:55). Dabei wird das Cello leiser, sein Klang verschwindet quasi aus dem Jenseits.
Während der Cellist von den Chormitliedern auf seine Fragen noch Antworten bekommen hat, erklingt nach seiner Frage an Gott nichts. Das ist der Moment, an dem die Musik begreift, dass sie in der irdischen Sphäre verhaftet ist und niemals die GESAMTE Schöpfung darstellen können wird.
Demütig übergibt sie das Vorhaben daher an eine jenseitige Kraft, die Franz von Assisi wohl "Gott" nennt.
Das Stück ist ein tolles Beispiel für jemanden, der nicht einfach versucht "Alles" darzustellen, sondern vielmehr darstellt, wie er bei genau diesem Versuch gescheitert ist.