Autor Thema: Erfahrungen mit X-Card und anderen Sicherheitstechniken  (Gelesen 1759 mal)

blackris (+ 1 Versteckte) und 8 Gäste betrachten dieses Thema.

Online klatschi

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Re: Erfahrungen mit X-Card und anderen Sicherheitstechniken
« Antwort #100 am: Heute um 01:13 »
Du gehst auch lustigerweise nicht auf meine Argumente ein, die diese Situationsbeschreibung einschränken. Ich gebe dir Recht, dass das Argument insofern "konstruiert ist", als dass ich noch immer keine Situation gesehen habe, wo aus meiner Sicht die X-Karte in irgendeiner Weise wirklich sinnig konzeptualisiert wird.

Das werden diejenigen, die eigene Erfahrungen mit der X-Karte haben, sicher fundierter beantworten können. Für mich klingt Dein Beispiel wie eine Situation, die in der Realität nicht wirklich auftaucht:

• In der Session Null sollten Spinnenphobien geklärt worden sein. Die SL hatte in Session Null dann wohl nicht gut genug aufgepasst - das läge aber in ihrer Verantwortung. Eine spontane Spinnenphobie wäre schon mal ein sehr seltener Fall.
• Es ist wohl nicht der Normalfall, dass die betroffene Person auf die X-Karte zeigt und  n i c h t s  dazu sagt. Nur weil sie nichts sagen muss, heißt es ja nicht, dass sie bei jedem Einsatz der Karte nichts sagen wird. Von daher wäre Dein Beispiel noch einmal seltener.
• Ideal scheint mir die X-Karte, wenn eine Befindlichkeit jung aufgetaucht ist und die Runde davon nichts weiß oder die Bedeutung dieser Befindlichkeit falsch eingeschätzt hat.

Dein Beispiel wäre für mich ein Fall, klatschi, der real extrem selten auftaucht, und eine Fokussierung auf solche real selten auftretenden Fälle lässt die Chance der X-Kart als letztes Sicherheitsnetz vor einem Aus- oder Zusammenbruch am Tisch unter den Tisch fallen.

Nein. Genau darum geht es: Alleine darum, weil wir uns so schwer tun, einen vernünftigen Fall zu finden, wo die X-Karte einfach nur Vorteile hat, meine ich, dass das Tool nicht geeignet ist. Du spielst seit Jahren mit derselben Gruppe, ich habe vielleicht ein paar mehr Spieler*innen, aber egal: Wir beide können aus unserer Spielpraxis nicht sofort erkennen, wo das Tool nützlich wäre, zumindest sind deine Nennungen so unkonkret, dass ich davon ausgehe, dass du das auch nicht so wirklich greifen kannst.

Was soll das dann?
Ist es nur für Conventions? Das mag sein. Dann ist es kein Safety-Tool für Rollenspiel, sondern ein Saftey-Tool für Rollenspielconventions? Ich weiß es nicht. Oder vielleicht vor allem für Spiel bei Paid GMs?

Zu deinen Punkten:
Session 0 und Co spreche ich ja auch an.
Wenn ich drauf deute und dann sage, was das Problem ist, dann kann ich doch auch einfach was sagen. Dann braucht es keine X-Karte. Dann ist das eine Visualisierung des Räusperns, vollkommen unnötig, dass wir uns darüber unterhalten.

Dann bleibt also der dritte Punkt:

• Ideal scheint mir die X-Karte, wenn eine Befindlichkeit jung aufgetaucht ist und die Runde davon nichts weiß oder die Bedeutung dieser Befindlichkeit falsch eingeschätzt hat.

Und da liegt in meinen Augen kein Vorteil der X-Card.
Siehe:

Wenn ich gerade einen super schweren Schicksalsschlag habe, der mir den Boden unter den Füßen wegreißt, dann sollte ich zumindest etwas sagen wie: "Leute, mir geht's nicht gut, aber ich brauch den Eskapismus, kann sein, dass ich mal abhaue oder so." Denn mein Verhalten wird unter solchen Stressfaktoren sowieso anders sein, als normal und es ist in solchen Fällen nicht nur aus Respekt meinem Gegenüber, sondern auch als Selbstschutz sinnvoll, dies zumindest grob einzuordnen (weil es sonst Fragen geben könnte).

Das lässt sich auf jede andere Befindlichkeit* übertragen.
Vielleicht weil ich sie falsch eingeschätzt habe? Kann es dann so schlimm sein dass alle die Szene überspringen müssen? Ich weiß nicht, auch schon wieder sehr Corner case.

Dein Beispiel wäre für mich ein Fall, klatschi, der real extrem selten auftaucht, und eine Fokussierung auf solche real selten auftretenden Fälle lässt die Chance der X-Kart als letztes Sicherheitsnetz vor einem Aus- oder Zusammenbruch am Tisch unter den Tisch fallen.

Sorry, für mich ist doch nach all den Argumenten genau das "anders herum" der real selten auftretende Fall: Ein Einsatz der X-Karte, den ich nicht antizipieren hätte können, ist der absolut seltenste aller Fälle.

Ich finde es ja gut, dass man aufeinander Rücksicht nehmen will. Aber da wird uns kein Safety Tool der Welt helfen.

Ich treibe das jetzt bewusst auf die Spitze, aber die Prämisse ist: "Ich will eine absolut sichere Umgebung für alle am Tisch garantieren!"
Dann sollte mir überlegen: Kann denn jede Person schnell genug auf die X-Card zeigen, bevor es zu schlimm wird? Ich rede zu schnell als GM, wenn ich im Flow bin. Also sollte ich vielleicht nicht wirklich noch eine Art "Pause"-Funktion einbauen, dass jemand das nochmal kurz durchdenken kann oder sowas wie ein Hinweis, dass ich langsamer reden sollte, wenn ich mich vergesse und es kritisch werde könnte? Das bräuchte es dann schon nochmal als Sicherheitsnetz.

EDIT: Ich hab’s gefunden - sowas kann man dann mit „Bullt Time Consent“ absichern, was es nicht alles gibt.

Bullet-Time-Consent: Kritische Entscheidungen werden in kleinere Einzelentscheidungen zerlegt, denen jeweils einzeln zugestimmt werden muss.
Beispiel: Die Gruppe hat einen Gegner gefangen genommen, und befragt diesen. Da die Befragung sich länger hinzieht und (scheinbar) nirgendwo hinführt, sagt eine der Spielenden irgendwann "Ich ziehe mein Schwert und schlage dem den Kopf ab, denn mein Charakter ist 'Ungeduldig' und 'Blutrünstig'".
Dann würden (in klassischen Annahmemodellen) die anderen Spielenden evtll ihre Zustimmung verweigern, und man müsste in der Beschreibung zurückrudern, was u.U. immersionsstörend sein kann.
Bei BTC würde die Spielende etwas sagen wie "Ihr seht, wie meine Figur mit den Augen rollt... sie fixiert den Gefangenen und murmelt 'Das bringt doch nix', während sie den Griff ihres Schwertes umklammert... sie zieht ihr Schwert, macht einen Schritt nach vorne und hebt dieses über dem Hals des Gefangenen...  sie lässt das Schwert auf den Hals des Gefangenenen niedersausen... und trennt sauber dessen Kopf ab." (jeweils mit deutlichen Sprechpausen ("..."), und Blickkontakt zu den Mitspielenden, um denen die Gelegenheit zu geben, etwas zu erwidern)


(Mein Spiel ist das nicht mehr aber schon für alle, die so den Abend verbringen)

Wir werden aber weiter extrem seltene Situationen finden, die manchen weh tun. Wir können uns nicht vor allem schützen. Und wir werden genau in dieser Diskussion nie zu einem Konsens kommen können, denn die Frage wird dann sein: Wie viele Regelungen wollen wir uns als individuelle Gruppe geben, die alle Corner Cases von vornherein abdecken kann.



*Ich will im Übrigen nicht wortklauberisch sein, vielleicht wolltest du das Wort Befindlichkeit nicht bewusst nutzen. Aber: Es ist gerade auch immer ein bisschen die Frage im Raum, wie "schwerwiegend" eine Befindlichkeit sein darf, dass ich die X-Karte spiele und mir das Recht rausnehme, den anderen x Personen am Tisch meine Wünsche aufzudrücken. Die X-Card geht nämlich über jeden Kompromiss hinaus. Sie sagt den anderen: Wir machen weiter, weil das sind die Regeln, ihr stellt keine Fragen, ich muss auch keine Begründung geben. Und ja, alle einigen sich darauf, dass man das nicht willy nilly macht, aber die Grade der Schwerwiedrigkeit sind fließend (man versuche mal, Kopfschmerzen zu quantifizieren).
Entsprechend sind solche Tools ohne Kommunikationskomponente aus meiner Sicht einfach problembehaftet.

« Letzte Änderung: Heute um 01:44 von klatschi »

Online schneeland

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Re: Erfahrungen mit X-Card und anderen Sicherheitstechniken
« Antwort #101 am: Heute um 01:55 »
Nachdem der Theorieanteil hier nicht so hoch ist, habe ich den Thread mal in P&P - Allgemein verschoben. Bei der Gelegenheit habe ich ihm auch gleich einen etwas sprechenderen Titel gegeben.
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