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Andrew Roberts - Churchill - Walking with DestinyAn diesem Werk habe ich mich eine ganze Weile abgearbeitet, das liegt allen voran an der Länge (in der von mir gelesenen Variante 1105 Seiten) und der Detailtiefe. Davor ist zunächst einmal der Hut zu ziehen. Andrew Roberts hat ein außergewöhnlich dichtes, faktenbeladenes Buch geschrieben, welches sich auch immer wieder mit der inneren Haltung und der Reaktion Churchills als auch mit den äußeren Haltungen und den Reaktionen auf Churchill befasst.
Das Buch ist allerdings ein kleiner Churchill-Kosmos mit sehr singulärem Fokus, deswegen muss beachtet werden, dass viele historische Zusammenhänge - trotz der epischen Breite des Werkes - nur angerissen werden können und von dem Leser entweder eine grundsolide, historische Vorbildung erwarten oder zumindest die Aufgabe stellen, sich nebenher in die historischen Zusammenhänge einzulesen.
Gerade zu Beginn liest man das Buch aber mit Gewinn, weil man das Gefühl hat, Churchill in seiner Entwicklung kennenzulernen. Im Mittelteil ist dieses Verfahren, auch weil die Persönlichkeit Churchills in der Betrachtung von Roberts ab einem gewissen Punkt fixiert scheint, überfrachtet. Und dann erscheint bisweilen die Detailtiefe so groß, dass der Lesegewinn nicht mehr so groß sein kann. Aus der Entwicklung von Churchills Persönlichkeit wird ein Verharren in den Kontinuitäten seiner Persönlichkeit und damit aus der Faktenlage bisweilen Zuschreibung.
Das ändert aber nichts an dem Gesamteindruck, dass hier ein sehr wichtiges, wenn auch mit gewissen Caveats versehenes Buch entstanden ist. Churchill - auch wenn ich das jetzt ein wenig aus dem Zusammenhang reiße - hat einst gesagt: For my part, I consider that it will be found much better by all parties to leave the past to history, especially as I propose to write that history myself. Dieser Satz wird oftmals verkürzt zu: History will be kind to me. For I intend to write it. Dieser Teil wird sinngehaltlich sehr gut bearbeitet von Roberts, da er sorgsam herausarbeitet, wie Churchills eigene Beschäftigung mit Geschichte (bspw. mit seinem Vorfahren John Churchill, dem 1st Duke of Marlborough oder eben auch in anderen Werken) immer einerseits Geschichtswerk, und andererseits selbst politische Stellungnahme zu Themen seiner Zeit ist. Aber hier und da versucht Roberts das auch durchscheinen zu lassen, wenn er Churchill indirekt für den Brexit in Beschlag nimmt. Roberts - das darf bei der Lektüre nicht vergessen werden, auch wenn es meist stark in den Hintergrund tritt - ist am Ende konservativer Politiker.
Dieses wird dem Buch bisweilen vorgeworfen und sicher zurecht, dennoch gelingt Roberts m.E. der Drahtzeilakt zwischen Heldenverehrung (die ganz sicher beabsichtigt ist) und ausreichend kritischer Haltung, da die vielen Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen Churchills durchaus kritisch (auch in ihren Auswirkungen) thematisiert werden. Hier hätte noch ein bisschen mehr Kontextarbeit gut getan, um diese Punkte deutlicher zu machen; aber dann hätte das Werk ganz sicher noch mehr Volumen gehabt, und wäre vielleicht auch noch streitbarer gewesen.
Insgesamt bleibt es ein sehr gutes Werk, da es zudem eine enorme Quellen-Fundgrube ist. Es bleibt aber auch ein herausforderndes Werk. Und eines, welches selbstverständlich auch nicht gänzlich neutral ist. Der Guardian hat es am besten ausgedrückt: Churchill becomes the mirror in which bewildered Britons can find consoling fantasies of national greatness.
Und damit schließt sich eben auch die zeitgeschichtliche Einordnung dieses Werkes.
8 von 10 Punkten