Hier nun noch meine Ergänzung zum Thema Rollenspielsystem für HârnWorld. Ich möchte das schnell hinter mich bringen, damit wir zum interessanten Teil kommen können.
Disclaimer: Alles, was ich in diesem Post sage, spiegelt meine eigene subjektive Perspektive wider. Sicher kann man theoretisch mit jedem RPG-System in Hârn spielen, aber ich denke, es gibt einige Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen.
DIE HÂRNWORLD-ENGINE
Ich werde im Folgenden bewusst nicht von Rollenspiel-Systemen oder Regelwerken sprechen, weil das oft auf Einzelheiten fokussiert und individuelle Vorlieben, Regeldiskussionen und Interpretationen von Regeln in den Vordergrund stellt. Ich möchte stattdessen das Wort "Engine" benutzen, um zu betonen, dass das RPG-"System" sozusagen nür den Antrieb bzw. den Betrieb des Settings sorgen soll. Die Egine soll folgende Aufgaben erledigen:
1) Mechaniken zur Erschaffung und Steuerung von Figuren in HârnWorld bereitstellen
2) Die Umwelt der Figuren (also die Hintergrundwelt) simulieren
3) Den Spielfiguren größtmögliche Freiheit bei der Interaktion mit der Umwelt bieten, dabei aber standardisierte Prozesse zur Abwicklung von Herausforderungen und Ereignissen an die Hand geben
Warum braucht es überhaupt ein Simulation der Umewelt in HârnWorld? Das ist deshalb wichtig, weil Hârn wie im ersten Post beschrieben keine "klassische" Sword & Sorcery-Fantasywelt ist. Die Taten der Spieler haben hier Auswirkungen. Wenn eine Spielergruppe in ein Dorf reist, dann ist dieses Dorf kein 08/15-Fantasy-Dorf im Nirgendwo, sondern eingebunden in eine pseudo-mittelalterliche Herrschaftsstruktur. Möglicherweise ist das Dorf sogar in einem offiziellen Artikel beschrieben und es existiert eine Karte, in der sogar alle Häuser eingezeichnet und die Dorfbewohner einzeln mit ihren Familien und Berufen beschrieben werden (mehr dazu im nächsten Post). Das ist keinesfalls Pedantismus, sondern ermöglicht es den Spielern erstens, die Welt in all ihren Facetten zu erkunden und führt zweitens dazu, dass es keine "random" NSCs gibt. Wenn ein Spieler z.B. einen Unfreien tötet, so wird er Probleme mit dessen Herrn bekommen. Und wenn er in ein Haus einbricht und dort etwas stiehlt, so beklaut er nicht namenlose Computerspielfiguren, sondern eine Familie mit einer eigenen Geschichte - vielleicht hat einer der Bauern in Wirklichkeit Verbindungen zur Kirche des Meuchelmördergottes Naveh (ja, solche Sachen stehen bei manchen offiziell beschriebenen NSCs dabei). Um was es mir geht: es gibt eine organisch gewachsene Welt, die lebendig ist und keine "Geisterbahn" mit Fake-Interaktion.
HârnWorld ist außerdem ein Setting, das eine immersive Erfahrung bieten will und das durch die Suggestion von Realismus erreicht. Um eine realistische Simulation ablaufen zu lassen, ist es wichtig, dass alle Simulationsprozesse nicht im Vordergrund sichtbar werden (z.B. wie bei Fate), sondern im Hintergrund ablaufen. Die Spieler müssen mMn nicht alle Regeln kennen - z.B. ist es für die Spieler unwichtig, wie der Spielleiter das Wetter bestimmt, wie er festlegt, wie viele Soldaten in einer Baronie ausgehoben werden können oder welche Werte ein Bandit hat. Wichtig ist nur, dass die Spieler darauf vertrauen können, dass es klare Regeln gibt und dass diese vom Spielleiter befolgt werden. Eine Simulation kann nur dann funktionieren, wenn die Engine nicht ständig willkürlich verändert wird. Lässt man sich darauf ein, wissen die Spieler auch, was sie erwartet und sie werden viel besser damit klar kommen, dass Spielfiguren bei Hârn sterben können, dass Zufallsereignisse eintreten können, die die Umwelt z.T. drastisch verändern usw.
TLDR; WIE SOLL DAS IN DER PRAXIS FUNKTIONIEREN?
Die Default-Engine für HârnWorld ist seit 1986 natürlich HârnMaster. Hier braucht man sich im Endeffekt keine Gedanken machen. Auf der Hardware ist sozusagen HârnMaster vorinstalliert und man kann damit loslegen. Gleichzeitig ist HârnMaster aber keine eingänge Engine. Ganz im Gegenteil: auf den ersten Blick ist HârnMaster supersperrig, wirkt an vielen Stellen sehr spießig und verstaubt. Es gibt eigenartige Abkürzungen und die Regeln sind äußerst zackig und knapp formuliert. Viele werden hier den Drang verspüren, das PDF, den Ordner oder das Hardcover-Buch schnell wieder zu schließen und lieber etwas anderes zu tun.
Ich rate hier zu Folgendem: Wenn man sich auf HârnMaster einlässt, dann wird man entdecken, dass hinter der sperrigen Fassade mit den Abkürzungen, Tabellen und kleinen Rechnereien bei den Skills ein der elegantesten Rollenspiel-Engines aller Zeiten steckt. Das System ist meiner Meinung nach das mit Abstand durchdachteste Rollenspielregelwerk, das es gibt. Wirklich alles hängt hier zusammen und das hat ganz stark damit zu tun, dass es seit 1986 nur ganz behutsam angepasst und nicht wie andere Engines mit Updates, Pateches und kosmetischen DLCs verschlimmbessert wurde. Außerdem hat die Sperrigkeit für mich Flair und verströmt Nostalgie. Gleichzeitig ist es aber kein rules-light-OSR-Heartbreaker, sondern eine umfangreiche Engine, die eigentlich alle wichtigen und abenteuerrelevanten Dinge abdeckt.
Trotzdem: wenn einem HârnMaster nicht zusagt, dann ist das total verständlich. Es ist eben kein System für jeden. Wenn man dennoch in der HârnWorld Abenteuer erleben will, dann kann man das auch super gut mit anderen Systemen. Diese sind halt nicht vorinstalliert und entsprechend muss man hier und da ein bisschen rumbasteln.
Bevor ich noch einmal auf die bereits im Eingangspost erwähnten Systeme eingehe, möchte ich noch kurz darlegen, welche weiteren Anforderungen ich an eine Fremdengine stellen würde (abgeleitet aus meinen vorherigen Anforderungen an die Engine):
1) Charaktere müssen zufällig erstellt werden können
Ja, bei HM gibt es auch ein Punktkaufsystem, aber das ist erstens total schlecht designed und zweitens führt jedes System, bei dem man Attribute usw. mit Point-Buy festlegt unweigerlich zu Min-Maxing. Das bricht dann wiederum die Simulation, weil die Figuren wie Leeroy Jenkins durch die Spielwelt fräsen können und natürliche Herausforderungen vom Spielleiter angepasst werden müssen (egal ob sozialer oder kämpferischer Natur). Dadurch scheiden für mich eigentlich so Systeme wie GURPS, HERO oder DSA 4.x aus.
2) Charaktere müssen sterben bzw. verletzt werden können
Die HârnWorld ist keine Ponyhof. Wer dort auf Abenteuer auszieht, der ist meist ein gesellschaftlicher Außenseiter. Und auf Abenteuer zu gehen heißt auch, Leib und Leben zu riskieren. Zwischen den pseudo-mittelalterlichen Königreichen liegt anders als im echten Europa eine z.T. riesige Wildnis, in der Barbaren, Orks und Monster lauern, die einem ans Leder wollen. Kämpfe sollten daher gefährlich sein. Wunden sollten wirklich Wunden sein. Wenn man mit dem Schwert gestochen oder geschnitten wird, dann ist das nicht lustig. Stellt euch mal vor, jemand würde euch mit einem langen Küchenmesser in den Bauch stechen oder euch die superscharf geschliffene Seite in den Hals hauen. Das ist es, was man beim Kampf in HârnWorld spüren sollte. Angst oder Nervenkitzel! Systeme wie D&D 5, wo der Fighter gähnend Frostriesen die HP runterprügelt und nach einer Schelle derselben kurz durchschnauft, um dann mit der Prügelorgie weiterzumachen, halte ich für ungeeignet (zumindest ohne Zusatzregeln). Wer sich trotzdem nicht losreißen kann von 5e, der findet auf DriveThruRPG eine kostenlose Systemkonversion für HârnWorld.
3) Kein Bauergaming
Ja, es gibt so Leute, die stehen voll drauf, bei Hârn Bauern zu spielen, die Milch melken und die Ernte einbringen. Wenn ich bei so etwas mitspielen müsste, würde mein Kopf instant auf der Tischplatte aufschlagen nach dem sofort einsetzenden Sekundenschlaf. HârnWorld ist nicht das mittelalterliche Europa!!!! Und auch im mittelalterlichen Europa hatten nicht alle Leute so ein scheißlangweiliges Leben. In der HârnWorld gibt es, wie bereits erwähnt, einen lebenden Gott, es werden Wunder gewirkt, Priester können mächtige Heilmagie wirken und es gibt eine Insel, wo Zauberer wohnen. Also bitte kein Bauergaming, am besten noch garniert mit "authentischem Mittelalter". Stattdessen muss die Engine in der Lage sein, Magie und religiöses Wirken, aber auch Monster usw. zu simulieren.
Ich empfehle auf dieser Basis:
1) AD&D 1E --> Klassiker! Figuren werden zufällig erstellt, sterben schnell und Monster können nach HârnWorld importiert werden. Lediglich die Gold- und Magieregeln müsste man etwas anpassen.
2) Genauso gut kann man D&D 3.5e bzw. 3e nehmen. Manche schreien jetzt sicher: WTF? Das ist ja ein Superhero-System, alle sind voll mächtig und minmaxen nur usw. Aber 3.5 ist nicht von Haus aus ein Min-Maxer-System - es wurde nur durch die Community und ihre Sucht nach Splatbooks dazu gemacht. RAW bietet 3.5 zufällige Charaktererschaffung. Gleichzeitig ist es supertödlich (im Gegensatz zu D&D 5). Außerdem kann der Spielleiter entscheiden, dass Zauber nicht automatisch vergeben werden, dass es keine Magic Item-Shops gibt und Fähigkeiten und Fertigkeiten nicht automatisch gelernt werden (siehe dazu DMG). Es gibt darüber hinaus eine interessante Sonderregel im Unearthed Arcana, wo man auf HP verzichtet und stattdessen den Schaden als Save würfelt. Ich würde schließlich nicht die normalen Klassen nehmen, sondern nur die NSC-Klassen zulassen. Fertig ist die HârnKonversion. Das offizielle d20-Heftchen von Columbia Games für Hârn der frühen 00er Jahre kann man aber total vergessen. Das ist nicht gut gemacht. Auch die d20-Konversion, die man bei DriveThru kostenlos runterladen kann, ist nicht gut durchdacht (leider).
3) Chivalry & Sorcery: Passt natürlich perfekt, weil es ja die ursprüngliche Engine war und der Vorgänger von HM. Ich persönlich finde C&S superspannend, aber es ist schon superkomplex und ich glaube nur wenige Spielleiter (mich eingeschlossen) werden in der Lage sein, die Hintergrundwelt ohne Weiteres im Hintergrund zu simulieren. Es gibt einfach zu viele Regeln für meinen Geschmack.
Ansonsten wurden hier im Thread ja schon weitere Beispiele genannt, z.B. Ars Magica. Kann man sicher machen, aber ich halte Ars Magica nicht für eine supergeeignete Engine, weil es sich sehr stark auf die Simulation des Konvents fokussiert (zumindest ab AM 3 oder so). Ich sehe da einfach nicht den Benefit. Da kann man einfach HM1 oder HM3 nehmen und gut ist.