Lies bitte was ich geschrieben habe.
Das alle Rollenspiele Klassensysteme haben ist deine Interpretation meiner Aussage. Wo du die Grenze zwischen harter Klasse "nur Diebe können das" und weicher Klasse "du bist Historiker und darfst die meisten deiner Punkte auf diese fünf Fertigkeiten verteilen" (was auch eine Form von „nur Historiker können das“ ist) ziehst ist mir egal.
Das ändert nichts am Grundgedanken das Rollenspiele eher dazu neigen dem Spieler eine Rolle zuzugestehen.
Wieder aufpassen auf das Wording „eher dazu neigen“ ist ungleich alle.
Naja, ich muss mich auch echt nicht drum streiten.
Als Freund klassenloser Systeme habe ich mich ein bisschen an der "Ist doch alles eine Soße, auch bei denen die behaupten, was anderes zu machen"-Implikation gestoßen, die da m.E. schon leicht rauszulesen war. Muss man sich ja auch nicht durch provozieren lassen. Muss man aber auch gar nciht erst so verallgemeinernd hinschreiben. Wohlwollend lesen ist schön und gut, wohlwollend formulieren aber auch.
@1of3:
Ist das so? Dann ist D&D3 nicht wirklich ein Klassensystem, sondern sehr simple Fertigkeitsbäume. Also ich kann ja jede Stufe eine andere Class nehmen. Es gibt nichts, was ich ich prinzipiell nicht können kann, es sei dann aufgrund meiner bisherigen Auswahl kann ich vor Stufe 20 in einer Class nicht länger hinreichend hoch kommen. PbtA ist auch zweifelhaft, denn ich kann take a move from another playbook.
DSA3 ist auch kein Klassensystem. Es gibt gewisse Dinge, insbesondere Zauber, die prinzipiell nur bei Wahl des korrekten Heldentypen zum Zeitpunkt der der Charaktererschaffung gehen, soweit richtig, aber ansonsten sind diese Heldentypen reine Starterpakete. Sie liefern keine spezielle eigene Progression. Alle progredieren gleich. Sie sind also eher wie D&D Races statt D&D Classes.
Klar lässt sich das Thema auch so rum aufzäumen - letztendlich ist jedes System, dass dir offiiziell erlaubt, irgendetwas hauszuregeln, schon kein Klassensystem mehr ... aber auch wenn es sich um Enden einer Skala handelt, hat die Differenzierung der Begriffe durchaus einen Sinn: Es gibt Systeme, die setzen voraus, dass du sie benutzt, um ein eigenes Figurenkonzept umzusetzen (GURPS), es gibt Systeme, die geben dir Zufallsbausteine (Traveller), es gibt Systeme, die geben dir eine mehr oder weniger enge Startschablone und ab dann ist alles offen (DSA3, Cthulhu), es gibt aber auch Systeme, die dir eine Start- und Progressionsschablone grundsätzlich erst einmal exklusiver Art liefern, und alles, was diese Schablone verlässt, ist eher die Ausnahme als die Regel (pick another move by pbtA ist meistens schon sehr begrenzt und ermöglicht es normalerweise RAW nicht, einen völlig neuen Weg einzuschlagen, bei D&D kenne ich mich echt nicht genug aus, aber da wird es doch selbst bei Klassenwechsel noch einen Haufen Sachen geben, die zusammen einfach nicht erlaubt sind, oder?). Dann gibt es auch noch komische Fälle wie DSA4, die vordergründig reines Pointbuy sind, bestimmte Vorteile wie Magie aber mit so harten Einschränkungen belegt, dass sie wieder als Klassen fungieren ...
Ändert aber alles nichts daran, dass mir Cthulhu, GURPS und Traveller auf jeweils unterschiedliche Arten viel mehr Freiheit dazu geben, frei Schnauze spielmechanische Charaktereigenschaften zu kombinieren als irgendein D&D oder die meisten pbtA-Spiele. Und das artikulieren diese Spiele ja auch in ihrem Selbstverständnis. Das eine oder andere dann als Verarsche hinzustellen ("das ist ja eigentlich doch nur ein verstecktes Klassensystem" bzw. "Wenn es Multiclassing hat, ist es kein richtiges Klassensystem"), geht doch an der Funktion der jeweiligen Regelmechaniken vorbei und ist auch irgendwie ... nicht nett gegenüber den Machern und Fans. Es gibt ja schon Gründe dafür, dass manche lieber feste Klassen wollen und manche lieber freie Generierung, und beides hat seine Berechtigung.
Zum Threadthema:
Ich glaube, die Eingangsfrage ist zu prinzipiell gestellt; die Antwort kann immer nur subjektiv sein.
Phantasie braucht immer Material – das ist im Prinzip die komplette Lebenserfahrungswelt des jeweiligen Individuums.
Und Phantasie braucht immer Anregung – ganz ohne einen Anstoß oder Auslöser passiert nichts, und wenn der Anstoß nur ist: „Ich will eine Geschichte schreiben“ (denn die Vorstellung von einer Geschichte enthält ja schon ein Vorwissen darüber, was eine Geschichte ist, Regeln, die man befolgen oder brechen kann, ein Selbstbild, das beinhaltet, die Art von Person zu sein, die eine Geschichte schreibt …).
Ob Regeln jetzt im positiven Sinne als Anstoß funktionieren oder im negativen Sinne als Restriktion (oft wahrscheinlich als beides), ob sie manchmal sogar im positiven Sinne eine Restriktion sind, weil sie die Phantasie auf eine unerwartete Bahn lenken – das ist doch so abhängig von der jeweiligen Person und Situation, dass es sich unmöglich allgemein beantworten lässt.
Die Frage wäre also eher: Wie gehe ich damit um, wenn Regeln als negative Restriktion empfunden werden? Was mache ich, wenn der eine bei der Lektüre der Vor- und Nachteilsliste von GURPS die Krise kriegt, weil er nicht weiß, wie er seine Ideen damit spielmechanisch umsetzen soll, während die andere zu Hochtouren aufläuft, wenn jeder neue Nachteil bei ihr eine neue, bereichernde Idee sprießen lässt? Was mache ich, wenn eine die Kriegerklasse liest und denkt „Boah, wie geil ist das denn!“, während sich ein ganz eigenes Bild von der Figur dazu vor ihren Augen formt, während ein anderer schon längst eine Vorstellung hat, die aber nicht zu den Regeln der Klasse passt?
In der Praxis wird das durch Kompromisse, Hausregeln, Re-Skinnen gelöst. Das funktioniert in meiner Erfahrung auch recht gut. Deshalb beantworte ich die Frage für mich so: Regeln sind in aller Regel gutes Material zur Anregung meiner Fantasie. Wenn sie mir gefallen. Und wo sie mir im Weg stehen, da überlege ich, ob es die Mühe wert ist, sie zu ändern, oder ob ich mich auf etwas anderes einlasse, als das, was ich mir von selbst ausgedacht hätte.
Wo ich auf keinen Fall mitgehen würde, ist eine idealistische Vorstellung von Phantasie, die wie der heilige Geist über einen kommt und jungfräulich Ideen gebiert. Wie gesagt braucht Phantasie Material und Anstoß, und es kommen immer wieder neues Material und neue Anstöße hinzu. Und das können auch RSP-Regeln sein.